Musik braucht keine Torwächter – Seminar mit Starproduzent Robert Margouleff
Der ehemalige Produzent von Stevie Wonder war als Gastdozent am digitalen Campus und sprach über Karriere, Surround-Sound und die Zukunft des Musikgeschäfts
Ein Beitrag von Valerie Neumaier
Freitag, 19. Juni 2020
Mediencampus der Hochschule Darmstadt
Synth- & 3D-Audio-Pionier Robert Margouleff gab am 4. Juni 2020 Studierenden des Studienganges Sound & Music Production im Seminar einen persönlichen Rückblick auf die Entwicklung des Surround-Sound und den Zustand der Musikindustrie – live aus seinem Domizil in Hollywood.
Margouleff ist seit den 60er Jahren in der Musikszene aktiv, blickt im Alter von fast 80 Jahren auf eine Karriere als Plattenproduzent, Toningenieur, Vorreiter der elektronischen Musik und Filmproduzent zurück: Er war Co-Gründer des einflussreichen elektronischen Duos Tonto’s Expanding Head Band sowie Weggefährte und einer der ersten Kunden von Synthesizer-Pionier Robert Moog, entwickelte mit dem damals revolutionären Soundsystem völlig neue Klangwelten und prägte damit entscheidend die Entstehung der Electronica-Musikbewegung. Er produzierte insgesamt vier Platten für Stevie Wonder und erschuf dabei mit dieser neuen Technologie das für das Genre wegweisende Album Innervisions, für das er 1974 mit einem Grammy Award ausgezeichnet wurde.
Surround und seine Grenzen
Mehr als ein halbes Jahrhundert lang hat Margouleff sich mit der Wirkung und Entfaltung von Klang im Raum und dem Erschaffen neuer Klangwelten beschäftigt. Früh erkannte er, dass immersives Audio ein logischer Schritt in der Entwicklung unserer Hörgewohnheiten sein würde: „Wir leben in einer ‚Surround-Welt‘, die wir für selbstverständlich halten, weil sie uns täglich umgibt“, gibt er zu bedenken. Unsere Musik sei in Höhlen voller Echo entstanden, und das Bestreben, den Klang im Raum optimal zu transportieren, beeinflusste den Bau unserer Architektur, von Kathedralen bis zu Jazz-Clubs. Für all diese Räume musste die passende Musik entwickelt werden – schließlich klänge eine Kirchenorgel in einem Nachtclub akustisch genauso deplatziert wie eine Hammondorgel im Kölner Dom.
Das Prinzip von Sound im virtuellen 3D-Raum war für Margouleff als Schöpfer künstlicher Klangwelten ein logischer nächster Schritt in dieser Entwicklung.
Er erlebte die immer weitere Sprengung der technischen Grenzen dieser Technologie, über die die Kinos erobernden Dolby Surround-Systeme bis hin zur Entwicklung von HRTF (Head-related transfer, zu deutsch „kopfbezogene Übertragung“)-Mikrofonen. Nach Ausflügen in die Welt der Filmproduktion nutzt Margouleff die einst für die Leinwand geschaffene Surround-Technologie, um klassische Stereo-Tracks für einen neuen Hörgenuss in 3D zu remastern.
Eine Kostprobe: seine Revision des Klassikers „Riders on the Storm“ von The Doors vermittelt das Gefühl, mit der Band im selben Raum, ja in der Mitte des titelgebenden Sturms zu sitzen – man ist umgeben von einem Sound, der fast die Kopfhörer sprengt. Das E-Piano setzt ein und perlt einem direkt in den linken Gehörgang, wird beim Refrain zu Stereo-Sound und füllt schließlich den ganzen Raum aus. Die 1971 in handelsüblichem Stereo produzierte Originalversion klingt im Vergleich zu dieser neuen Abmischung geradezu flach.
Demonstration eines typischen 3D-Sound-Setups von Margouleffs Webseite: margouleff.com
Der User macht die Musik
Margouleff agiert bei der Platzierung des Sounds wie ein Filmregisseur – genau wie bei VR-Experiences ist der „User“ der Mittelpunkt des Geschehens, anstatt es in zweidimensional, wie auf einem Flachbildschirm, zu erleben. Mit der immer weiter voranschreitenden Entwicklung von Kopfhörersystemen hält dieses Prinzip in Form von binauralem Audio bereits jetzt Einzug in unsere Hörgewohnheiten.
Was der Synth-Pionier von digitaler Musikproduktions-Software und den virtuellen Synthesizern hält, mit denen die Studierenden arbeiten?
Als das MP3-Format das endgültige Ende des Plattenzeitalters einleitete, ahnte Margouleff, dass der Laptop zum „neuen Volksinstrument“ werden würde – die weite Verbreitung von Heimstudios und den Siegeszug erschwinglicher DAWs (Digital Audio Workstations) wie ProTools und Ableton bezeichnet er als die „Demokratisierung des Musikgeschäfts“ und etwas, was er den „Billie Eilish-Effekt“ nennt – eine neuartige Form von persönlicher, intimer Musik, aufgenommen in heimischen Schlafzimmern, abgemischt am Laptop. Technologische Innovation beeinflusst direkt unsere Art, Musik zu produzieren und reagiert gleichzeitig auf unser verändertes Konsumverhalten, das heute meist unterwegs über Kopfhörer geschieht – ein Effekt, der sich durch die Corona-Krise in Zeiten geschlossener Diskotheken und Kinos in Zeitraffer fortsetzt. Das Ergebnis ist Musik, die sich darauf konzentriert, sich als Performance direkt im Kopf der Zuhörer zu entfalten – die Immersion ist auch hier allgegenwärtiges Thema.
Das Modell „Spotify“ hat ausgedient
Davon, dass diese Veränderung gerade jetzt zwingend stattfinden muss, ist Margouleff überzeugt: Mit Sorge blickt er auf die ausbeuterischen Geschäftsmodelle von Spotify & Co. Gerade jetzt, wo viele Musiker vor dem Aus stehen, da sie ihre Haupteinnahmen nicht aus den für sie ohnehin schon marginalen Verkäufen ihrer Musik, sondern aus Konzerten bestreiten, erklärt er mit Nachdruck, dass das Modell in seiner jetzigen Form alles andere als zukunftstauglich ist.
Die Selbstvermarktung über Social Media und Ad Revenue bewirkt die Abwendung der Künstler von den einstigen „Starmakers“ – den großen Marketing-Mühlen der Plattenlabels – und mündet in neuen, autarken Geschäftsmodellen. Dank Youtube und Bandcamp kann sich jeder heutzutage selbst vermarkten, ist MusikerIn, KomponistIn, ProduzentIn in Personalunion. Das „Gatekeeping“ der Plattenlabels, das nur ausgewählte Künstler fördert und ihre Musik bis zur Unkenntlichkeit durchoptimiert, passt nicht mehr in das Zeitalter der selbstgemachten Entrepreneurs, die mit der „Broadcast Yourself“-Philosophie herangewachsen sind.
Mit dieser Sichtweise ist er nicht alleine: schon 2012 verkündete Erfolgsautor Neil Gaiman in seiner Rede „Make Good Art“ an der University of the Arts in Philadelphia folgendes: „The gatekeepers are leaving their gates. You can be as creative as you need to be to get your work seen. YouTube and the web can give you more people watching than television ever did. The old rules are crumbling and nobody knows what the new rules are.“
Mit einem ähnlichen Grundgedanken schließt Robert Margouleff sein Seminar mit folgendem Aufruf an die Studierenden ab:
„Musik ist so alt wie der Planet selbst, und hat die Kraft, die Welt zu verändern. Sie hat die 60er und 70er verändert, genauso, wie sie es gerade wieder tut – und jetzt müssen wir sie so stark politisieren, wie es nur geht. An euch liegt es, neue Wege zu finden, wie ihr dazu die Werkzeuge, die man euch an der Hochschule an die Hand gibt, sinnvoll und kreativ einsetzt.“
Mehr von Robert Margouleff und seinen früheren und aktuellen Projekten gibt es unter margouleff.com zu sehen.