ScienceWednesday: Eine Straße lesen und mit ihr sprechen
Thomas Wolkinger von der Hochschule Graz zu Gast beim ScienceWednesday. Zum Thema: „Die Kunst des Journalismus“ – ein Blog über die wiener Quellenstraße.
Ein Beitrag von Franziska Bittel
Freitag, 25. April 2014
Mediencampus der Hochschule Darmstadt
Der Journalismus muss die Lebensrealitäten der Menschen ernst nehmen und auf diese hinweisen. Das ist die Erkenntnis des journalistischen Projekts “Post it” der Hochschule Graz. Darüber berichtete Thomas Wolkinger, Dozent an der Partnerhochschule des Mediencampus, beim ScienceWednesday. Unter dem Titel „Die Kunst des Journalismus“ berichtete er über den Auftrag von den Wiener Festwochen: Ein Blog, mit Ausstellung und Partizipation der Bürger, über die Quellenstraße in Wien. In Zusammenarbeit mit Künstlern, Sozialarbeitern und Stadtentwicklern sind beim Projekt neue Formate für den Lokaljournalismus entstanden, die in den künstlerischen Bereich hinein gehen. Der Vortrag war Teil der wissenschaftlichen Lunchtalkreihe ScienceWednesday, die mittwochs in der Mittagspause (13.30 – 14.15 Uhr) am Mediencampus stattfindet.
24 Frisörläden in einer drei Kilometer langen Straße
Durch zwei Blogs der Hochschule über diverse Viertel in Graz wurde das Komitee der Wiener Festwochen auf die Studierenden und Wolkinger aufmerksam. Dem Team schlossen sich auch Künstler, weitere Journalisten, Sozialarbeiter und Stadtentwickler an. Bei der ersten Besichtigung zeigte sich, die Quellenstraße ist eine periphere Straße in Wien. Sie ist drei km lang, zu Fuß braucht man etwa 45 Minuten, um sie entlang zu laufen, laut Wolkinger eine Durchschnittsstraße. Auffällig seien lediglich die 24 Friseurläden gewesen. Der Bezirk sei ein typischer Arbeiterbezirk, durchschnittlich migrantisch geprägt und auf den ersten Blick ein unbeschriebenes Blatt. “Doch dann haben wir angefangen die Stadt zu lesen. Was haben die Bürger hier bereits geschrieben? Aufkleber, Graffitti-Tags, Plakate und mit Edding beschmierte Schilder, alles sagt etwas aus über die Bewohner der Straße”, erklärte Wolkinger die Recherche. Danach habe die Projektgruppe auch mit den Bewohnern gesprochen.
Die Außensicht der Quellenstraße: Arm und furchtbar
Die bisherige Berichterstattung verdeutlichte, dass die Straße bisher (fast) nur negative Schlagzeilen gemacht hatte, mit Unfällen, Brandstiftung, Raub und einem Mord. Die Außensicht schien zu sein: Hier sind alle arm und es ist alles furchtbar. Ein Blick in die Geschichte der Straße liefert andere Themenansätze. Zum Beispiel schrieb Victor Adler seine erste Sozialreportage über die Arbeiter im nahgelegenen Ziegelwerk. Schließlich findet das Team heraus: Die Straße mit den 24 Friseurläden ist nicht unbeschrieben und es sind viele Themen und Geschichten vorhanden. Zum Beispiel berichtete Ali auf Youtube, wie er in der Quellenstraße aus einem Sexshop eine Teestube machte.
Die schwierige Suche nach der richtigen Form
Die meiste Arbeit für das Team aus 40 Beitragenden war es, die unterschiedlichen Themen, Orte, Menschen und Materialien zu finden, zu sortieren und in eine neue Form zu bringen. Das Team organisierte sich mit einem offenen Redaktionsbüro und versuchte immer wieder Multiplikatoren, wie zum Beispiel Leiter von Vereinen und Blogger anzusprechen. Diese sollten das Projekt bekannt machen und neue Geschichten liefern. Das Team verortete die Themen auf einer Karte, so entstand auch der Name des Projekts: Post it!
Ausstellungskonzept: Ein Mix aus digital und analog
Das Projektteam hat, in Zusammenarbeit mit Einheimischen in nur vier Monaten viele Themen sehr unterschiedlich umgesetzt. Die wichtigsten Bestandteile waren ein Blog und ein zentraler Ausstellungsraum in der Straße. Zusätzlich wurde ein Ausstellungsparkur durch die Straße angelegt, dieser war einen Monat für Besucher geöffnet. Die verschiedenen Formate wurden an dem Ort, an dem sie entstanden sind, ausgestellt. Zum Beispiel leitete ein Fotograf Jugendliche aus einem Medienworkshop bei einer Fotoreportage über ihren Lieblingsfriseur an. Die entstandenen Bilder wurden im Laden ausgestellt, fotografiert und auf dem Ausstellungsblog veröffentlicht. Der Blogbeitrag wiederum wurde ausgedruckt und im zentralen Ausstellungsraum aufgestellt. “Von der Meta-Ebene zur Meta-Meta-Ebene. Das Spiel lässt sich beliebig fortsetzen. Dieser Mix aus digital und analog, von verschiedenen Materialien und das Spiel mit den Metaebenen war ein wichtiger Bestandteil des Ausstellungskonzepts”, sagte Wolkinger. Später wurden auch Kommentare aus dem Blog als Plakate auf der Straße veröffentlicht.
Neue Ideen und Formate
Auch neun Studierende des Studiengangs „Journalismus und Pubic Relations“ der Hochschule Graz hatten die Möglichkeit, Beiträge in anderen Formaten zu erstellen. Wolkinger selbst testete ungekürzte Interviewformate mit der sehr offenen Einstiegsfrage: „Worüber möchten Sie gern sprechen?“. Die anfangs erwähnten vielen Friseurläden dienen übrigens vermutlich als Treffpunkte für verschiedene Communities. Ebenso wie die verschiedenen Kneipen. Während der Ausstellungszeit fand ein übergreifendes Pubquiz statt, bei dem sich die Gäste der unterschiedlichen Lokale untereinander Fragen stellen konnten, die mit einem Fahrradkurier hin und her gefahren wurden. Durch diese Aktion habe das Projektteam die Gruppen ins Gespräch bringen wollen.
Geblieben ist wenig
Wolkingers Bilanz des Projekts ist ernüchternd: “Geblieben ist sehr wenig, da niemand vor Ort gefunden werden konnte, der zum Beispiel das Blog hätte weiter betreuen können. Partizipation ist super und notwendig für guten Lokaljournalismus, braucht aber viel Zeit und Aufwand.” Dennoch haben alle Teilnehmer des Projekts viel gelernt für den Lokaljournalismus der Zukunft. Besonders wertvoll waren laut Wolkinger neue Perspektiven auf die Lebensrealitäten der Menschen, etwa durch eine Stadtentwicklerin, einen Sozialarbeiter oder Künstler. Diese anderen Perspektiven lohne es sich immer wieder auszuprobieren und dadurch neue Formate für den Lokaljournalismus zu entwickeln. “Ich stelle immer wieder eine Lücke fest, zwischen den Menschen, die an einem Ort leben und den Menschen, über die in den lokalen Medien berichtet wird”, sagte Wolkinger zum Schluss. Die neuen Formate sollten sich an allen Menschen orientieren und diese mit ihren Bedürfnissen und Wünschen ernst nehmen.
In dem Beitrag „Poste-es!“ finden Sie Bilder aus dem Projekt.